Alles begann in Schottland. In Inverness, hoch im Norden des Landes. Simone Eichwald aus Ravensburg arbeitete hier vier Jahre als Heilerziehungspflegerin in der Arche, einer Gemeinschaft für Menschen mit und ohne Behinderung. Simone war begeistert von dem Projekt und erzählte ihrer Mutter Erika davon.
So kam die Sache ins Rollen.
Mutter Erika ließen Idee und Ideal der Arche-Bewegung nicht mehr los. Mit einer Handvoll Gleichgesinnter überlegte sie, wie man die Idee in Ravensburg umsetzen könne. Fünf Jahre lang betete das kleine Häuflein Aufrechter dafür, eines Tages eine Arche-Gemeinschaft zu gründen. 1995 wurde die Vision konkret: Ein Trägerverein entstand. Und damit die Gemeinschaft 1998 ihr erstes Haus beziehen konnte, mussten Erika und ihr Mann Karl zunächst 30 000 Mark vorstrecken – die Finanzierung über Pflegesätze kam erst später. Erika agierte zwölf Jahre als Vereinsvorsitzende, Karl half mit seinem technischen Sachverstand, wo er nur konnte. Bis ein Unfall im Jahr 2002 seinem Leben unvermittelt ein Ende setzte. Den Schlag hat seine Ehefrau bis heute nicht verwunden. Noch heute hat sie Tränen in den Augen, wenn sie von ihrem Mann spricht. Und auf dem Klingelschild draußen an der Haustür steht noch immer „Karl Eichwald“. Als wäre nichts gewesen.
Fünf Jahre betete die kleine Gemeinschaft
Am 11. September 2012 gründete Erika Eichwald endlich ihren „Karl und Erika Eichwald-Stiftungsfonds“ zur Unterstützung der Arche Gemeinschaft Ravensburg. Vier Jahre früher war bei der CaritasStiftung Lebenswerk Zukunft bereits die ArcheStiftung „Gemeinschaft ist Leben“ entstanden, die die Gemeinschaften in Landsberg und Ravensburg unterstützt. Bereits damals war Erika Eichwald Mitstifterin. Ihren eigenen Stiftungsfonds sieht die rüstige Pensionärin als konsequente Fortführung dieser Hilfe. So kam die Protestantin Eichwald zur katholischen CaritasStiftung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Und seitdem sammelt sie unablässig Geld für die Stiftung. Zu ihrem 80. Geburtstag bat sie um Spenden statt Geschenke. Das funktionierte gut.
Arche – diese Idee verwirklicht gleich drei Herzensanliegen von Erika Eichwald: die interreligiöse Öffnung, die Integration von Menschen mit einer Behinderung und einen internationalen Denk-Ansatz. In der Arche arbeiten so genannte Assistentinnen und Assistenten, Freiwillige aus aller Welt, ein Jahr lang. In Ravensburg kommen sie derzeit aus den USA, der Mongolei, Georgien, Frankreich und Nepal. Katholische und evangelische Gottesdienste wechseln sich in der Hauskapelle ab. So wird Erika Eichwalds Wunsch nach gelebter Ökumene und Inklusion konkret. Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur, Menschen mit und ohne Behinderung, Menschen aller Religionen arbeiten, leben und beten hier gemeinsam. Das klappt sogar so gut, dass die junge Muslima beim Krippenspiel die Maria verkörpert. Erika Eichwald sagt dazu schlicht: „Die Spiritualität der Arche ist anziehend.“
Beim Maschinenbau-Studium einzige Frau im ganzen Jahrgang
Dabei schwebte der 1939 im westfälischen Dortmund Geborenen ursprünglich eine ganz andere Karriere vor. Sie, die im zerbombten Nachkriegsdeutschland aufwuchs, wollte Architektin werden. Wollte Häuser bauen. Doch der Vater legte sein Veto ein. Architekten müssten auf Baustellen, und da sei der Umgangston zu rüde. Nichts für Frauen. Schon gar nicht für seine Erika. Also lernte Erika zunächst technische Zeichnerin, ließ sich dann zur Detailkonstrukteurin ausbilden und hängte schließlich ein Maschinenbaustudium dran – als einzige Frau ihres Jahrgangs. Während des Studiums lernte sie Karl Eichwald kennen, lieben und heiratete ihn. (Wobei es die inzwischen 80-Jährige noch heute grämt, dass eine ökumenische Trauung 1969 nicht möglich war.)
Das Glück blieb dem jungen Paar hold: Beide fanden als frischgebackene Maschinenbau-Ingenieure eine Stelle im Württembergischen. Bald kamen ein Sohn und eine Tochter. Als die Kinder groß genug waren, zog es die Eichwalds in die Entwicklungshilfe („Wir wollten selbst was tun.“). Nachdem ein Engagement in einem Recycling-Projekt in Botswana gescheitert war (die Eichwalds galten als „überqualifiziert“), fingen Karl und Erika 1978 an einer Schule der methodistischen Kirche in Südkorea an. Da die Koreaner die deutschen Maschinen nicht bedienen konnten, kamen die beiden Ingenieure aus dem Schwäbischen genau richtig. Schließlich gab Erika Eichwald sogar Vorlesungen auf Koreanisch, die sie akribisch vorformuliert hatte. 90 uniformierte junge Männer in den Bankreihen staunten – und schmunzelten über den deutschen Dialekt ihrer Lehrerin. Die Zeit in Korea (1978-1983), umgeben vom Konfuzianismus und Buddhismus weitete den europazentrierten Blickwinkel enorm.
Pazifisten widersetzen sich Wunsch des Bischofs
Beendet wurde das Eichwaldsche Engagement in Korea abrupt: Als der methodistische Bischof das Ehepaar anwies, Teile für die Rüstungsindustrie zu produzieren, widersetzten sich die Eichwalds, die sich konsequent gegen Waffen, Krieg und Gewalt engagieren, kategorisch. Erika Eichwald sagt heute: „Ich bin für gewaltfreie Kommunikation und gegen jede Art von Rüstung. Ich setze mich für eine waffenfreie Menschheit ein.“ Nach der Weigerung dem Bischof gegenüber rief „Dienste in Übersee“ das deutsche Ehepaar vorzeitig zurück. Erst am 12. Juli 2019 gab es eine Art „Rehabilitation“. Erika Eichwald wurde von der Kanzlerin und „Brot für die Welt“ nach Berlin eingeladen – als eine von 200 der insgesamt 30 000 ehemaligen Entwicklungshelferinnen und -helfer. Im Rahmen des Jubiläums „50 Jahre Entwicklungshilfegesetz“ berichtete sie den Journalisten auf großer Bühne über ihre Erfahrungen.
Die Kontakte in alle Ecken der Welt sind bei Erika Eichwald nicht nur Steckenpferd, sondern Programm: Jedes Jahr ist sie vier Wochen in Brasilien, um in Sao Paolo Hilfsprojekte zu besuchen. Schon oft war sie in Chennai in Süd-Indien, wo sie die Arche-Gemeinschaft fördert. Bereits in den 80er Jahren, noch zu Sowjetzeiten, initiierte sie mit Freunden eine Partnerschaft zwischen den Gemeinden „Mittleres Schussental“ und dem weißrussischen Brest-Litowsk. Bis heute kommen Austauschstudenten an die Uni Weingarten-Ravensburg. Einer von ihnen, Jaroslaw, wurde mit der Zeit so etwas wie ein zweiter Sohn. Ihn hat sie bereits zwei Mal an seinem neuen Wohnort im kanadischen Vancouver besucht.
Immer wieder nahm Erika Eichwald ausländische Studentinnen und Studenten auf und half ihnen, in Deutschland Fuß zu fassen – nicht zuletzt als Lehrbeauftragte für „Deutsch als Fremdsprache“ an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Nur bei einer Syrerin war alle Mühe vergebens. Die junge Frau, die hier Erzieherin lernen wollte, erhielt bis jetzt kein Einreisevisum, da sie nicht als Flüchtling galt. Das traf Erika Eichwald sehr. Sie hofft, dass die deutsche Botschaft doch noch eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Glück findet die Oma von sechs Enkeln dafür in ihrer Familie mit fünf Nationalitäten: sie Deutsche, die Schwiegertochter Schweizerin, zwei Enkel, die in Sao Paulo geboren wurden, erhielten brasilianische Pässe, und der koreanische Adoptivsohn ist mit einer Kirgisin verheiratet.
Eigene Familie erweitert spirituellen Horizont
Der Blick über den religiösen Tellerrand ist tief im Herzen der unermüdlich tätigen Rentnerin verankert. Wenn sie aus ihrem Leben erzählt, kann man stundenlang zuhören. Geschichte reiht sich an Geschichte, Abenteuer an Abenteuer. Und man wundert sich, dass alle Geschichten in 80 Jahre Leben passen. Ihre Reisetätigkeit brachte Erika Eichwald in Kontakt mit Methodisten, Hindus, Muslimen, Buddhisten, Shintoisten und vielen anderen, die anders denken und glauben als Christen. Die Seniorin, die sich selbst nicht als „Protestantin“, sondern als „Ökumenikerin“ bezeichnet, stammt selbst aus einer liberalen protestantischen Familie. Ihre Mutter aus Niedersachsen, der Vater Ostpreuße, ihr Ehemann tiefgläubiger Katholik, der nach dem Krieg als Flüchtling aus Schlesien ins Ruhrgebiet gekommen war. Diese Konstellation erweiterte Erika Eichwalds spirituellen Horizont. Daraus schöpfte sie eine ihrer tiefsten Erkenntnisse: „Ich kann mir keinen Weltfrieden vorstellen ohne Friede unter den Religionen.“ Konsequent ihr Handeln: als Mitorganisatorin des internationalen, ökumenischen Bodensee-Kirchentages, als Mitglied der ökumenischen Initiative „Eine Welt“ Ravensburg, im Friedensbündnis Ravensburg und als Referentin beim Evangelischen Bildungswerk Oberschwaben und bei der katholischen Erwachsenenbildung Ravensburg. 2018 besuchte sie sogar das „Weltparlament der Religionen“ im kanadischen Toronto.
Erika Eichwald, die sich kurioserweise selbst als „Durchschnittsmensch“ bezeichnet, wurde im November 2016 von Bischof Gebhard Fürst für ihr überdurchschnittliches Engagement für andere mit der Martinusmedaille der Diözese ausgezeichnet – als Protestantin! Und irgendwann im Leben der rüstigen Westfälin schloss sich dann ein Kreis: Das Ehepaar Eichwald hatte in der Zeit in Korea einen 5-jährigen Straßenjungen adoptiert und ihm den Namen Daniel gegeben. Daniel ist inzwischen erwachsen und hat für sich den Traum seiner Mutter verwirklicht: Daniel ist Architekt.