30 Stufen geht es abwärts in den Keller. Unten ist es kühl und feucht. Oben, auf dem Schild am Eingang, steht „Katakombe“. Und drinnen sieht’s auch so aus. „Früher war das ein Weinkeller“, sagt Elke Mildner. 1983 wurde der Keller in einen Raum für den Gottesdienst umfunktioniert. Die alte Altarplatte stammt aus dem Priesterseminar. Ein Weinkeller als kleine Kirche im Untergrund.
Nur zwei Steinwürfe vom Rottenburger Dom entfernt steht das alte Haus der 76-Jährigen. Hier ist der Sitz der „Elke-Mildner-Caritas-Stiftung“. Diese fördert seit dem 19. März 2005 die sozialarbeiterische, therapeutische und spirituelle Begleitung von Alkoholabhängigen. Doch nicht erst mit der Stiftung engagiert sich Elke Mildner für sie: 35 Jahre lang organisierte die agile Frau Wohnungen für dieses Klientel. Ursprung und Triebfeder dieses beispiellosen Einsatzes ist ihre eigene Betroffenheit: Elke Mildner war selbst ganz unten. Frontal aufgeklatscht auf dem eiskalten Boden der Sucht.
Irgendwann sah sie keinen Ausweg mehr für sich
Vor 43 Jahren begann die Mutter von vier Kindern, verheiratete Lehrerin und „gutsituierte Bürgerin“ (Mildner über Mildner), die in Lyon Theologie studiert und bei den Jesuiten als Assistentin gearbeitet hatte, zu trinken. Immer mehr. Immer härter. Bald schon reichten Bier oder Wein nicht mehr. Lange konnte sie die Sucht geheim halten. Irgendwann sah Elke Mildner jedoch keinen Ausweg mehr. Mit massig Schlaftabletten und einer Flasche Schnaps fuhr sie in den Wald und warf sich die Drogen ein. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Hier wäre die Geschichte normalerweise zu Ende. Doch die Wirklichkeit ging weiter: „Irgendein Rentner mit Dackel“ fand sie und alarmierte sofort die Polizei. Und rettete ihr das Leben.
Das war der Wendepunkt im Leben der Elke Mildner. Sie gründete fünf Gruppen der „Anonymen Alkoholiker“. Das war ihr irgendwann zu wenig. Schließlich richtete sie die Wohngemeinschaft „OASE Rottenburg“ für Alkoholabhängige ein, in der heute fast 40 Menschen von einem multiprofessionellen Team begleitet werden. 2005 gründete sie unter dem Dach der CaritasStiftung „Lebenswerk Zukunft“ ihre eigene Stiftung; einerseits wollte sie damit die Arbeit der OASE langfristig sichern, andererseits soziale und geistliche Projekte fördern, die ihr am Herzen liegen.
Im Gottesdienst wird nicht gepredigt, aber manchmal geschrien
Bis heute sind die Grundsätze der in Detmold aufgewachsenen Mildner in der OASE zu spüren. Die Einrichtung war von Anfang an „eine geistliche Initiative und gleichzeitig ein soziales Projekt“. „Ohne geistliche Wurzeln könnte ich das niemals durchhalten“, so Mildner. Das ist ihr wichtig. Deshalb hat auch das gesamte, inzwischen elfköpfige Team bis heute einen „kirchlichen Hintergrund“. Zu den Gottesdiensten in der Katakombe kommen ein paar Bewohner, Alkoholiker, Angehörige, Schüler und ihre Eltern, aber auch engagierte Firmgruppenleiter. Es wird nicht gepredigt, es wird geredet. Oder es wird laut. Manchmal schreien die Menschen hier unten vor Schmerz, Wut, Verzweiflung oder Scham. Hier, in der Katakombe, darf sich das Unglück äußern.
Die schwierigste Übung für alle Alkoholkranken ist das Durchhalten. Das „Trockenbleiben“. Mit jedem Rückfall wird es schrecklicher als beim ersten Mal. Immer eine Katastrophe. Deshalb war Mildner in der OASE konsequent: „Wer bei mir trinkt, fliegt raus.“ Jedoch: Menschen, die trocken leben wollen, eine zweite Chance zu geben – auch das steht heute noch auf den Fahnen der Einrichtung.
Ein Problem handelte sich Elke Mildner durch ihre Art selbst ein: Selbst die „Trockenen“ wollten oft nicht mehr weg. Und da sie ihre Prinzipien hatte („Ich schmeiße keinen raus, der nicht trinkt.“), hieß die Lösung: Mehr Raum muss her. Dazu belieh sie schuldenfreie Häuser und kaufte mit dem Geld die nächsten. Beim Umbau packten die Bewohner mit an, ebenso Mildners Söhne – einer als Bauingenieur, einer als Zimmermann. Inzwischen vermieten die OASE und der von Mildner 2011 gegründete Verein RastHaus e. V. über 60 Wohneinheiten.
Im Alltag erlebte die Trägerin der Martinusmedaille und des Bundesverdienstkreuzes auch Glücksmomente. Wenn einer trocken blieb und sein Leben auf die Reihe bekam. Wenn auch nur in einer sehr begrenzten, geschützten Welt. Oder wenn die Prostituierte, die sich anfangs nicht mal die Treppe hinauf schleppen konnte, ein Stück ihre Würde wiederfand. Deshalb setzte Mildner nach, wenn einer rückfällig wurde, wenn einer ausbüxte, wenn einer brutal wurde oder irgendwo draußen in der kalten Nacht liegen blieb. Sie gab keinen auf. Ihr Optimismus und ihre Hoffnung sind bis heute in den vor ihr gegründeten Einrichtungen zu spüren.
Tochter macht bei Hochzeit rührendes Geschenk
Unterm Strich und unter der bisweilen rauen Schale lebt in Elke Mildner bis heute ein warmer, weicher Kern: „Man muss die Bewohner einfach lieben, sonst wird man verrückt. Außerdem krieg’ ich auch total viel zurück.“ Absolut rührend war die Hochzeit ihrer älteren Tochter: Während der Trauung steht Mildner in der Kirche und ahnt nichts, als sich die Braut plötzlich zur Versammlung umdreht und laut und deutlich verkündet: „Die Kollekte heute ist für meine Mama, die Heimat für Alkoholiker schafft.“ Da strömen die Tränen bei Elke Mildner nur so.
Bis heute ist jeder, der es schafft, für sie ein Zeichen der Hoffnung. „Wenn ich auch nur einem einzigen Menschen zu einem besseren Leben verhelfen konnte – dann hat sich’s doch gelohnt, oder?“ sagt sie und lächelt. Es klingt wie eine Art Bilanz ihres Werkes.
Oft noch denkt sie zurück, an ihren Selbstmordversuch im Wald. Wenn damals der Rentner mit dem Dackel nur 20 Minuten später gekommen wäre ...
Wer das war, hat Elke Mildner nie herausfinden können.